Prozessmodellierung – Praxisnah und methodisch fundiert

Jörg Becker und Florian Schmolke

Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld erzeugen immer wieder neue Herausforderungen für Unternehmen. So sind eine regelmäßige Prüfung der Positionierung gegenüber Wettbewerbern, eine Adaption aufkommender Innovationen und die Sicherung von Wettbewerbsvorteilen unabdingbar. Zur Berücksichtigung solcher Veränderungen ist ein vollumfängliches Wissen über die eigenen Prozesse und eine damit einhergehende hohe Transparenz der Ablauforganisation des Unternehmens notwendig. Der Prozess, dargestellt in einer auf Modellen basierenden Dokumentation, nimmt dabei als Abbildung der Tätigkeiten einen bedeutenden Stellenwert ein. Die Anwendung einer Modellierungssprache aus dem Bereich der semantischen Standardisierung verhilft den modellierten Prozessen zu einer hohen Transparenz und Nachvollziehbarkeit.

Die Gestaltung von Unternehmen kann durch die Aufbauorganisation oder die Ablauforganisation beschrieben werden. Eine Aufbauorganisation gliedert die Aufgabenbereiche des Unternehmens und ordnet diesen Bereichen Aufgaben zu. Hingegen bildet die Ablauforganisation die Durchführung der Aufgaben ab und beschreibt deren Koordination in einer zeitlichen, räumlichen Aufteilung unabhängig von den Aufgabenbereichen. Wird traditionell zunächst die Aufbauorganisation eines Unternehmens festgelegt und die Ablauforganisation folgt darauf, ist die Idee einer prozessorientierten Unternehmung das Primat der Ablauforganisation über die Aufbauorganisation [1].


Bild 1: Das Konzept vordefinierter Ebenen.

Prozesswissen als Kernkompetenz

Wir verstehen hierbei als Prozess die inhaltlich abgeschlossene, zeitlich-sachlogische Reihenfolge von Aktivitäten zur Bearbeitung eines betriebswirtschaftlich relevanten Geschäftsobjekts [2]. Der Prozess der Rechnungsprüfung hat als prozessprägendes Geschäftsobjekt (natürlich) die Rechnung. Andere Geschäftsobjekte können in den Prozess eingehen, damit wir von einer „Prüfung“ sprechen können, wie z. B. Rahmenvereinbarung, Bestellung, Lieferschein und Wareneingangsschein. Das Geschäftsobjekt, das den Prozess prägt, ist aber die Rechnung. Bei Eingang der Rechnung beginnt der Prozess der Rechnungsprüfung, mit Freigabe der Rechnung und Übergabe an die Finanzbuchhaltung endet der Prozess.

Prozesse lassen sich im Unternehmen in verschiedene Kategorien einteilen. Ein Prozess kann als Kernprozess direkt an der Wertschöpfung beteiligt sein, als Supportprozess die Wertschöpfung unterstützen oder als Managementprozess die Steuerung des Unternehmens abbilden. Ein weitreichendes Verständnis der im Unternehmen vorhandenen Prozesse ist ein wesentlicher wirtschaftlicher Erfolgsfaktor und für die Adaption neuer, digitaler Geschäftsfelder unabdingbar [3]. Nur transparente Abläufe im Unternehmen lassen eine kurzfristige, zielgerichtete Anpassung an neue Marktgegebenheiten zu. Darüber hinaus tragen gut definierte Prozesse zu einer Verbesserung der Effizienz, Qualität, Transparenz und Skalierbarkeit eines Unternehmens bei. Außerdem lassen sich vorhandene Handlungsrisiken reduzieren. Dies sind auch Gründe, weshalb ein Großteil aller Unternehmen ihr wirtschaftliches Handeln auf der Grundlage von Prozessdokumentationen und -abläufen aufbaut [4].


Bild 2: Hierarchischer Aufbau der icebricks-Methode.

Transparenz im richtigen Kontext: Prozessmodelle

Die Abbildung von Prozessen erfolgt durch den Einsatz von Prozessmodellen, welche eine zielgerichtete abstrakte grafische Repräsentation von Unternehmensabläufen und ein Bestandteil des Prozessmanagements sind [5]. Prozessmodelle bilden durch eine definierte Sprache der Modellierung Prozessabläufe ab. Die Prozessmodelle sind kontextabhängig und werden meist für einen spezifischen Zweck benötigt. So können Prozessmodelle zur Prozessdokumentation und -verbesserung, dem Qualitätsmanagement, dem Change-Management, der Zertifizierung und Begleitung von Audits oder der Auswahl von Software wie ERP-Systemen genutzt werden [6]. Die Qualität von Prozessmodellen richtet sich demzufolge auf die Nützlichkeit des Modells in Bezug zum Erstellungszweck. Ziel muss es sein, zu diesem Zweck relevante und verständliche Modelle zu erstellen, welche die Transparenz erhöhen [7].

Einfaches, unternehmensweites Prozessmanagement

Die Abbildung von Prozessen kann durch verschiedene Modellierungssprachen erfolgen, die eine individuelle Art der Darstellung des zeitlich-sachlogischen Aufbaus innehaben. Viele Modellierungssprachen und -werkzeuge setzen einen Fokus auf eine detailreiche Abbildung von Inhalten mit einer Vielzahl von zu verwendenden Elementen für die Darstellung von Informationen. Diese Informationen decken durch unterschiedliche Elemente eine große Anzahl von Einsatzmöglichkeiten und Anwendungsfeldern wie die Simulation und das Workflowmanagement ab [8]. Für die Organisationsgestaltung oder prozessorientierte Reorganisation sind einfache, leicht verständliche und bereits mit vordefinierter Semantik versehene Modellierungssprachen gut geeignet. Aspekte eines universellen Zugriffs, einer einfachen Notation, eines standardisierten Vokabulars, eines inhärenten Konzepts zur Benennung vordefinierter Abstraktionsebenen sollten bereits durch die Modellierungssprache sichergestellt werden [9]. Dadurch können auch Personen ohne ein tiefes Verständnis der Modellierungssprache die Inhalte nachvollziehen.


Bild 3: Abbildung prozessbezogener Informationen außerhalb des Modellierungsbereichs.

Modellierungssprachen aus dem Bereich der semantischen Standardisierung unterstützen diese Aspekte und zeichnen sich durch eine hohe Nachvollziehbarkeit und eingängige Prozessabbildungen aus. Dabei werden innerhalb der semantischen Standardisierung von Modellen vordefinierte Bausteine als Modellelemente genutzt. Bespiele für bausteinbasierte semantisch-standardisierte Modellierungssprachen sind PICTURE, das im öffentlichen Sektor weite Verbreitung gefunden hat [10, 11] und icebricks für Einsatzgebiete in Industrie, Dienstleistung, Handel und Finanzwirtschaft [8, 9]. Beide Sprachen werden durch das jeweils gleichnamige Werkzeug technisch umgesetzt.

Semantisch-standardisierte Prozessmodellierung: Die Methode icebricks

Standardisierung: Die Standardisierung, die der Methode icebricks innewohnt, beginnt mit einer Hierarchisierung der Modelle in drei Ebenen, von der auch nicht abgewichen werden kann (Bild 1). Die Ebenen bestehen aus dem „Ordnungsrahmen“ als Prozesslandkarte sowie zwei Prozessebenen. „Hauptprozesse“ werden für die Darstellung der Kernaufgaben eines Unternehmensbereichs verwendet, während „Detailprozesse“ die konkrete Ausführung der Prozessabläufe abbilden. Jedes Element des Ordnungsrahmens bezeichnet einen Hauptprozess (z. B. „Wareneingang“), jedes Element des Hauptprozesses bezeichnet einen Detailprozess („Ware einlagern“). Prozesselemente werden abhängig von der Modellierungsebene in Farbe und Form unterschieden (Bild 2). Alle Ebenen beinhalten Prozesselemente, die durch flexibel auswählbare, typisierte Attribute näher beschrieben werden können (Bild 3).

Aktivitäten und Kontrollfluss: Ein besonderer Fokus beim Aufbau und der Anwendung von icebricks ist die Nachvollziehbarkeit. icebricks-Modelle verfolgen das Ziel, auch ohne Methodenwissen verständlich zu sein. Damit dies gelingt, sind die abgebildeten Elemente und Operatoren auf ein Minimum reduziert. Als Prozesselemente werden nur Aktivitäten abgebildet, keine Ereignisse, Timer, Konnektoren, Nachrichten und was es sonst noch alles in anderen Modellierungssprachen gibt. Ein icebricks-Prozess verläuft entlang eines Kontrollflusses, der die Prozesselemente (Aktivitäten) verbindet. Ein Kontrollfluss lässt sich nur einfach verzweigen, sodass keine Verzweigungen innerhalb einer Verzweigung vorkommen können. Dies hat sich in vielen Modellierungsprojekten nicht als hemmende Einschränkung gezeigt, die Benutzer empfanden die Einfachheit als große Hilfe sowohl beim Modellieren als auch beim Lesen der Modelle. Die vordefinierten Ebenen führen zu einer gleichbleibenden Detailtiefe der Ablaufbeschreibungen auf allen Ebenen. Erfahrungsgemäß entstehen dadurch untereinander vergleichbare Prozesse. Dies fördert die Adaption zur Prozessreorganisation ebenso wie die Etablierung von Good Practices.


Bild 4: Integrative, modellierungsbegleitende Glossarpflege.

Benennung: Zur Sicherstellung von Transparenz und Vergleichbarkeit der Modelle wird ein standardisiertes Konzept zur Benennung der Prozesselemente verfolgt. Sämtliche Prozesselemente der Ebenen „Hauptprozess“ und „Detailprozess“ werden durch die Kombination von Geschäftsobjekt und Tätigkeit beschrieben. Geschäftsobjekte sind Substantive, die ein betriebswirtschaftlich relevantes Objekt beschreiben. Tätigkeiten beschreiben die Ausführung eines Geschäftsobjekts mit einem Verb im Infinitiv. Zusammengesetzt entsteht die Bezeichnung eines Prozessschrittes durch sein Geschäftsobjekt und eine zugehörige Tätigkeit (Bild 4). Ein Beispiel ist der Prozessschritt „Ware einlagern“ des Hauptprozesses „Wareneingang“, eines Elementes des Ordnungsrahmens. Die Bezeichnungen von Prozessschritten werden in einem zentralen Glossar gesichert. Hierdurch ist die Wiederverwendung und Ergänzung von Bezeichnungen sichergestellt. Darüber hinaus lassen sich durch eine zentrale Glossarverwaltung Redundanzen vermeiden. Des Weiteren können synonyme Bezeichnungen aufgefunden und bereinigt werden, was die Eindeutigkeit in Prozessmodellen erhöht. Zur vollständigen Beschreibung von Prozessen können weitere Informationen benötigt werden. Diese Informationen lassen sich als Attribute an den Prozesselementen der unterschiedlichen Ebenen ergänzen (Bild 3).

Varianten: Zur Erhöhung der Übersichtlichkeit und Reduktion von redundanten Prozessen ist innerhalb der icebricks-Methode ein Konzept zur Abbildung von Varianten vorgesehen, das um Prozessreferenzen ergänzt wird. Varianten bilden Alternativen zum Standard eines Prozessablaufes und beschreiben ein vom Standard (z. B. Sofortauftrag) abweichendes Prozessverhalten (z. B. Terminauftrag). Damit innerhalb des alternativen Ablaufs gleichbleibende Elemente nicht erneut hinterlegt werden müssen, wird die Nutzung von Prozessreferenzen verfolgt. Das referenzierte Objekt (Original) stellt die Grundlage des referenzierenden Objekts (Kopie) dar und umfasst dabei alle Informationen des Originals. Mithilfe dieses Aufbaus lassen sich gleichbleibende Inhalte modellieren und in alternativen Darstellungen anzeigen. Durch diesen Aufbau ermöglicht die icebricks-Methode, den Prozess der Stammdatenpflege „Stammdaten pflegen“ im Hauptprozess „Supplier Relationship Management“ für Neukunden und Stammkunden in zwei Varianten zu unterscheiden, aber gleichbleibende Inhalte wiederzuverwenden.


Bild 5: Generierte Dokumente, basierend auf Prozessmodellen.

Referenzmodelle: Auch in der Prozessmodellierung ist es wichtig, etablierte Vorgehensweisen und Good Practices zu beachten. So individuell die Prozesslandschaft eines jeden Unternehmens ist, so ähnlich sind auch viele der umgesetzten Prozesse innerhalb einer Branche. Durch die Analyse der Prozesse verschiedener Unternehmen einer Branche konnten in den vergangenen Jahren diverse Referenzmodelle in der icebricks-Methode aufgebaut werden. Durch die Einsatzmöglichkeiten der Methode im Qualitätsmanagement, in der Softwareauswahl und der Prozessorganisation wurden leicht verständliche und anpassbare Standards erarbeitet und etabliert. Diese Referenzmodelle können den Ausgangspunkt der Durchführung eines Projektes bilden, welches den strukturierten Prozess in den Vordergrund stellt [12].

Umfassende Integration

Bei der internen Bereitstellung von Prozessmodellen werden häufig Prozessmodelle erstellt und anschließend als Export im Intranet eines Unternehmens bereitgestellt. Hierbei veralten nicht nur die bereitgestellten Modelle schnell, sondern es erhöht sich auch zwangsläufig der damit verbundene administrative Aufwand. Durch die Integration eines universellen Zugriffs kann dieses Problem umgangen werden. So nehmen webbasierte Ansätze heute einen zentralen Platz ein. Die Modellpflege wird dabei unterschiedlichen Nutzern durch verschiedene Berechtigungsstufen ermöglicht. Auch muss die Möglichkeit bestehen, die gesamte Dokumentation als Übersicht aller Prozesse (Gesamtprozessübersicht) in einem PDF-Format zu exportieren. Darüber sollte aus einer eingesetzten Modellierungssprache automatisch ein Prozesshandbuch für die Auslage in Unternehmensbereichen ohne Internetzugang oder externe Audits generiert und in Word zur Verfügung gestellt werden können (Bild 5).


Bild 6: Vergleich von Modellierungssprachen anhand der 7 Process Modelling Guidelines
und der Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung (in Anlehnung an [13]).

Die durchgehend vorgegebene Struktur und die gestaltungstechnischen Hilfestellungen der Methode ermöglichen die einfache Abbildung von vergleichbaren, leicht verständlichen Prozessmodellen. Die Aufnahme der Prozesse wird mithilfe der drei Ebenen übersichtlich strukturiert, während weitere Informationen durch Attribute abgebildet werden. Anhand der strikten Bezeichnungsvorgaben mit „Geschäftsobjekt“ und „Tätigkeit“ ist eine Zuordnung zwischen dem betriebswirtschaftlichen Objekt und der jeweils auszuführenden Handlung immer vorhanden. Dieser Aufbau und die daraus resultierenden Modelle vereinfachen die Nachvollziehbarkeit der Prozesslandschaft. Eine Bearbeitung und Aktualisierung wird durch das Web-basierte System ohne Verzögerung allen Anwendern sofort ersichtlich. Die relevanten Informationen für ein Unternehmen können so intuitiv und schnell aufgerufen werden, damit einem effektiven Prozessmanagement nichts im Wege steht (zum Vergleich mit anderen Modellierungssprachen siehe Bild 6).

Beitrag als pdf herunterladen

Schlüsselwörter:

Prozessmodellierung, Prozesse, Prozessmanagement, Geschäftsprozessmanagement, Referenzmodelle

Literatur:

[1] Vahs, D.: Organisation. Ein Lehr- und Managementbuch. Stuttgart 2023.
[2] Becker, J.; Kahn, D.: Der Prozess im Fokus. In: Becker, J.; Kugeler, M.; Rosemann, M. (Hrsg): Prozessmanagement. Ein Leitfaden zur prozessorientierten Organisationsgestaltung. Heidelberg 2012.
[3] May-Strobel, E.; Welter, F.: Das Zukunftspanel Mittelstand Herausforderungen aus Unternehmersicht: Materialien des Instituts für Mittelstandforschung, (2015).
[4] Kohli, R.; Melville, N. P.: Digital innovation: A review and synthesis. In: Information Systems Journal 29 (2019), S. 200-223.
[5] Rosemann, M.; vom Brocke, J.: The Six Core Elements of Business Process Management. In: vom Brocke, J.; Rosemann, M. (Hrsg): Handbok on Business Process Management. Berlin 2010.
[6] Davies, I.; Green, P.; Rosemann, M.; Indulska, M.; Gallo, S.: How do practitioners use conceptual modeling in practice? In: Data & Knowledge Engineering 58 (2006), S. 358-380.
[7] Lindland, O. I.; Sindre, G.; Solvberg, A.: Understandig quality in conceptual modeling. IEEE Software 11 (1994), S. 42-49.
[8] Rosemann, M.; Schwegmann, A.; Delfmann, P.: Vorbereitung der Prozessmodellierung. In: Becker, J.; Kugeler, M.; Rosemann, M. (Hrsg): Prozessmanagement. Ein Leitfaden zur prozessorientierten Organisationsgestaltung. Heidelberg 2012.
[9] Clever, N.: icebricks. Konstruktion und Anwendung eines Prozessmodellierungswerkzeugs. Berlin 2016.
[10] Algermissen, L.; Schwall, J.: Prozessveränderung leicht gemacht. In: Hinz, E. (Hrsg): Regieren in Kommunen. Herausforderungen besser bewältigen – Außen- und Binnenorientierung beeinflussen. Wiesbaden Heidelberg 2017.
[11] Becker, J.; Algermissen, L.; Pfeiffer, D.; Räckers, M.: Bausteinbasierte Modellierung von Prozesslandschaften mit der PICTURE-Methode am Beispiel der Universitätsverwaltung Münster. Wirtschaftsinformatik 49 (2007), S. 267-279.
[12] vom Brocke, J.: Referenzmodellierung. Gestaltung und Verteilung von Konstruktionsprozesse. Berlin 2015.
[13] Clever, N.: Modellierung von Prozessen in hybriden Wertschöpfungsnetzwerken mit icebricks. In: Becker, J.; Bernhold, T.; Knackstedt, R.; Matzner, M. (Hrsg): Planung koordinierter Wertschöpfungspartnerschaften – Der Cooperation-Experience-Ansatz. Heidelberg 2017.