Demand Planning Falcon - Zielgenaue, stochastische Bedarfsvorhersagen mit einer neu entwickelten digitalen Planungsmethode

Alexander Schmid, Thomas Sobottka, Samuel Luther und Wilfried Sihn

Präzise Bedarfsprognosen sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Materialdisposition. EntscheidungsträgerInnen stehen jedoch vor dem Dilemma, welches Prognoseverfahren sie verwenden sollen. Zumeist fehlt auch das Methodenwissen, um komplexe mathematische Prognoseverfahren anwenden zu können. Doch auch nach der Wahl des Prognoseverfahrens verbleibt noch die Hürde, die Prognoseverfahren optimal zu parametrisieren. Der vorliegende Beitrag untersucht das Optimierungspotenzial eines selbst entwickelten automatisch optimierenden Prognoseansatzes auf Basis zehn gängiger Prognoseverfahren. In die Praxis umgesetzt wurde die Methode im Forschungsprojekt DISPO 4.0 im digitalen Planungstool Demand Planning Falcon, das zielgenaue Bedarfsprognosen für die Investitionsgüterindustrie erstellt.

Daten und Informationsbearbeitung haben eine zentrale Bedeutung im Wirtschaftsbetrieb und werden daher auch als das „Öl“ des digitalen Zeitalters bezeichnet [1]. Algorithmen sind folglich entscheidend, um die stark steigenden Datenmengen zielgerichtet verarbeiten zu können [1]. Dies betrifft insbesondere auch die Materialdisposition, die sich einem volatilen, globalen Marktumfeld mit steigender Komplexität [2] und zunehmender Menge an Informationen und Daten [3] konfrontiert sieht. Disruptionen durch Digitalisierung, kleinere Losgrößen, schwankende Absatzmengen, globalisierte Supply Chains sowie Kostendruck sind dabei wesentliche Komplexitätstreiber [4]. Genaue Bedarfsvorhersagen führen in der verbrauchsgesteuerten Materialdisposition zu einer Erhöhung der Versorgungssicherheit, zur Reduktion von Lagerbeständen und daraus resultierenden Lagerhaltungs- und Kapitalbindungskosten sowie zu Verminderung von Verschrottungskosten [5]. Fehlmengen und daraus resultierende Gewinneinbußen lassen sich ebenfalls reduzieren und die KundenInnenbindung kann durch verbesserte KundenInnenzufriedenheit gesichert werden [2].

Materialdisposition umfasst das Koordinieren der Materialflüsse in das Unternehmen und des Lagerbestands, sodass die richtigen Artikel zeitgerecht, sowie ortsgerecht in der richtigen Qualität vorhanden sind [6]. Dieser Beitrag befasst sich mit der Bedarfsrechnung, einem Teilgebiet der Materialdisposition, und speziell mit der Anwendung von Prognosealgorithmen in der verbrauchsgesteuerten Materialdisposition.

Bei der Prognoserechnung geht es darum, unter Berücksichtigung aller verfügbaren Informationen, vorhandener historischer Daten und ggf. Informationen, über zukünftige Ereignisse den zukünftigen Bedarf bestmöglich vorherzusagen [7]. Heute existieren vielfältige Verfahren und komplexe Logiken, um die Materialdisposition effizienter zu gestalten. Im betrieblichen Alltag findet jedoch zumeist nur ein sehr geringer Anteil mathematischer Modelle Anwendung [5], da anwendungsbereite Methoden zur Auswahl und fallspezifischen Parametrierung fehlen [8].

Der Demand Planning Falcon, ein im Rahmen des Forschungsprojektes DISPO 4.0 [9] von den Autoren entwickeltes digitales Planungswerkzeug für die Materialdisposition bzw. den operativen Einkauf, setzt genau hier an und erleichtert die Prognose für AnwenderInnen. Das Nutzenpotenzial wurde in zwei Fallstudien aus der Investitionsgüterindustrie evaluiert.

Der Ansatz des Planungswerkzeugs ist es, aus den State-of-the-Art Prognoseverfahren die bestgeeigneten automatisch für jeden Artikel und seine Bedarfscharakteristik auszuwählen und zusätzlich mittels metaheuristischer Optimierung die Parameter der Verfahren zu optimieren [8]. Damit wird eine effiziente Bedarfsprognose „per Knopfdruck“ erreicht und dies in einer Qualität, als gäbe es hunderte MaterialmanagerInnen, die kontinuierlich die aktuellen Bedarfsverläufe auswerten und die Prognosen entwickeln.


Bild 1: Übersicht Zeitreihenmodelle der stochastischen Bedarfsrechnung
(Eigendarstellung - weiterführende Informationen in [8]).

Methoden für die Bedarfsrechnung

In einer Literaturanalyse wurde zunächst eine Übersicht der verfügbaren Prognoseverfahren ermittelt, die identifizierten Prognosealgorithmen charakterisiert und die Einsatzmöglichkeiten im betrieblichen Umfeld der Investitionsgüterindustrie bewertet. Bild 1 zeigt das Ergebnis der ermittelten Verfahren. Die grün markierten Verfahren wurden über eine Häufigkeitsanalyse als die gebräuchlichsten Verfahren ausgewählt und in der entwickelten Planungsmethode berücksichtigt. Diese zehn Algorithmen finden teilweise schon Anwendung in ERP (Enterprise Resource Planning)-Systemen. Jedoch fehlt VerantwortungsträgerInnen in den Unternehmen eine Entscheidungshilfe, welche der Prognoseverfahren die geeignetsten und wie diese optimal zu parametrisieren sind [8].

Arbeitsweise der Prognoseverfahren

Da die Zukunft prinzipiell ungewiss ist, ist die Analyse der Bedarfsentwicklung das Mittel der Wahl, um gute Prognosen zu erstellen. Zeitreihen aus Absatzzahlen können verschiedene Muster aufweisen. Dabei hilft es, eine Zeitreihe in mehrere Komponenten zu zerlegen, um Veränderungseffekte getrennt erkennen zu können. Grob unterteilt gibt es folgende Zeitreihenkomponenten: Schwanken die Vergangenheitswerte um einen Durchschnittswert, nennt man diesen Bedarfsverlauf konstant. Der trendförmige Verlauf zeichnet sich durch einen stetig steigenden oder fallenden Bedarf aus. Saisonaler Bedarf schwankt regelmäßig in Perioden – bspw. starke und schwache Absatz-Monate eines Kalenderjahres [10] –, und der sporadische Bedarfsverlauf schwankt ohne erkennbare Regularität [11]. In der Realität wirken meist mehrere Komponenten zusammen (Glättung, Trend, Saisonalität, Dämpfung etc.) und erzeugen den Bedarfs-Verlauf [7], den die Prognoseverfahren in die Zukunft blickend abzuschätzen versuchen.

Die Literaturrecherche zeigt, dass es keine eindeutige Auswahlregel gibt, bei welchen in der Praxis vorzufindenden Zeitreihen, welches Prognoseverfahren optimal anzuwenden ist [12]. Daher soll das vorgestellte optimierende Verfahren durch die Analyse der Bedarfsverläufe aller Artikel die PlanerInnen zu einer bestmöglichen Auswahl und Parametrisierung der Verfahren führen.

Charakterisierung der Fallstudie

Die Leistungsfähigkeit der Methode wird über Fallstudien mit zwei österreichischen Unternehmen der Investitionsgüterindustrie bewertet. In Unternehmen 1 erfolgt die Materialzuführung in die Kleinserienproduktion verbrauchsgesteuert und in Unternehmen 2 wird die Ersatzteildisposition verbrauchsgesteuert abgewickelt. Der Betrachtungszeitraum für die historischen Absatzzahlen beinhaltet bei beiden Unternehmen immer die vergangenen 36 Monate und bildet die Grundlage, um daraus eine Prognose für die zukünftigen 12 Monate berechnen zu können. Die Daten werden direkt aus den IT-Systemen der Unternehmen via Schnittstelle eingelesen.

Im ersten Unternehmen werden 11.100 Artikel betrachtet, die in weiterer Folge in den Verarbeitungsprozess einer Kleinserienproduktion einfließen und im zweiten Unternehmen werden 17.700 Ersatzteile und eine entsprechende Ersatzteildisposition betrachtet.


Bild 2: Fallstudie − Charakterisierung Unternehmen 1 und Unternehmen 2.

Entwicklung des Demand Planning Falcon

Mit dem Demand Planning Falcon wurde ein auf MS (Microsoft)-Excel und VBA (Visual Basic for Applications) basierendes digitales Planungswerkzeug für eine optimierte Bedarfsrechnung der verbrauchsgesteuerten Materialdisposition für Absatzartikel in der Investitionsgüterindustrie entwickelt. Dieses läuft teilautomatisiert ab und soll die bewährten Verfahrensweisen nutzbar machen, sowie die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen erleichtern [8]. Die Modellierung des Werkzeugs zielt auf eine möglichst hohe Prognosequalität ab. Dabei sollen veränderliche Marktbedingungen, mit der Zielsetzung einer zukünftigen Digitalisierung bzw. Automatisierung der verbrauchsgesteuerten Materialdisposition, berücksichtigt werden.

Arbeitsweise des Demand Planning Falcon

Zu Beginn der Anwendung erfolgt die Parametrisierung der Planungsmethode. Dabei werden folgende Einstellungen vorgenommen: Anzahl der Monate in der Vergangenheit für die die Zeitreihe betrachtet werden soll, die Anzahl der Prognoseperioden, also wie viele Monate in die Zukunft die Prognose berechnet werden soll, die maximale Optimierungs-Laufzeit pro Artikel in Sekunden, die Art der Rundung (z. B. ganzzahlige Stückzahlen), der Zeitraum, über den die Bewertung der Prognosefehler durchgeführt wird und das Limit der Prognostizierbarkeit, also für welches Limit keine artikelspezifische Prognose mehr ausgegeben wird. Als nächstes erfolgt das Einlesen der Daten, wobei die Zeitreihen der historischen Absatzzahlen automatisiert aufbereitet werden.

Nach Abschluss der vorbereitenden Schritte kann die Prognoseberechnung aller zehn implementierten Prognosealgorithmen gestartet werden. Die Prognose wird für jeden Artikel und jedes der Prognoseverfahren gemäß den hinterlegten Nebenbedingungen berechnet bzw. optimiert. Aus den zehn generierten Prognoseergebnissen wird dann mittels einer regelbasierten Heuristik je Artikel das Verfahren mit dem geringsten Prognosefehler identifiziert. Je nach Systemperformance/Serverleistung und Datenumfang der Input-Datei kann die Ausführung der Prognoseberechnung mehrere Tage Rechnerlaufzeit in Anspruch nehmen, was für ein übliches monatliches Planungsintervall noch im durchschnittlichen Rahmen liegt.

Damit die artikelgenaue Prognose auch direkt in den Unternehmensalltag integriert werden kann, wird der Ergebnisreport nach erhobenen Anforderungen von AnwenderInnen erstellt. Ziel ist es, dass MaterialdisponentInnen und EinkäuferInnen direkt in MS-Excel mit dem Ergebnisreport weiterarbeiten können.


Bild 3: Ergebnisse der Prognoserechnung je Artikel.

Fallstudien-Evaluierung

Das entwickelte Planungswerkzeug Demand Planning Falcon erwies sich sowohl für eine Serienproduktion, wie auch für eine Ersatzteildisposition als geeignet.

Der Einsatz des Planungswerkzeugs zeigt, dass komplexe Verfahren der Exponentiellen Glättung, optimal parametrisiert, häufig bessere Ergebnisse erzielen, als die in der Praxis häufig angewendete „Saisonale naive Methode“, also einer Fortschreibung des Bedarfes der Vorperiode(n).

Eine Gegenüberstellung des Prognosefehlers (es kommt die mittlere quadratische Abweichung (MSE) zum Einsatz) der optimalen Methode und der Saisonal naiven Methode ergibt eine durchschnittliche Reduktion von 58 %. Besonders groß ist die Verringerung bei den Artikeln, für welche die Methoden „Exponentiellen Glättung 1. Ordnung“ und „Exponentielle Glättung 2. Ordnung mit Dämpfung“ die geeignetsten Verfahren sind. Der MSE ist hier nur 1/10 des Fehlers der „Saisonale naive Methode“.

Die Anwendung des Genetischer Algorithmus (GA) für die Parameteroptimierung der exponentiellen Glättungsverfahren ermöglicht eine Reduktion von durchschnittlich 41 % des MSE. Bild 3 zeigt auf, dass es nicht die eine optimale Prognosemethode für ein Unternehmen der Investitionsgüterindustrie gibt, sondern sich artikelspezifisch optimale Prognosealgorithmen herauskristallisieren.

Bild 3 zeigt aber nur eine einmalige Momentaufnahme einer Berechnung für zwei Unternehmen der Investitionsgüterindustrie. Betrachtet man den Methodenmix über mehrere Planungshorizonte einer rollierenden Planung, so ist erkennbar, dass Artikel das Prognoseverfahren über die Zeit auch ändern, da sich die Charakteristik der historischen Absatzzahlen ändert und somit auch die daraus resultierenden optimalen Prognosealgorithmen. Über einen Betrachtungszeitraum von drei Prognosezeiträumen (Monate) haben nur etwa 32 % der Artikel ein Verfahren unverändert als bestes Prognoseverfahren. Die durch das optimierte Verfahren Verbesserte Prognosegüte ermöglicht in der Folge verringerte Dispositionskosten bzw. Kosten des Einkaufs für die Unternehmen.

Wichtig ist hierbei auch die Wahl des richtigen Prognosehorizonts, für den die Verfahrensauswahl optimiert wird – werden Entscheidungen auf Basis längerer Prognosehorizonte (bspw. mehrere Monate voraus) getroffen, muss die Optimierung hierfür eingestellt sein, um gute Ergebnisse der digitalen „Prognose-Automatik“ zu gewährleisten.

Ausblick

In Zukunft werden durch monatliche Anwendung des Demand Planning Falcon bei den AnwendungspartnerInnen kontinuierliche Verbesserungsmöglichkeiten identifiziert und umgesetzt. Speziell eine Ausweitung auf weitere Prognoseverfahren, zur nachhaltigen Steigerung der Prognosequalität, wie auch eine ergänzende Parameteroptimierung bei den einfachen Verfahren (Saisonale naive Methode, Gleitender Mittelwert, Gewichteter gleitender Mittelwert) sind geplant.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen der industrienahen Dissertation DISPO4.0, die von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (FFG) unter der Förderungsnummer 872787 gefördert wird.

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Schlüsselwörter:

Absatzplanung, Exponentielle Glättung, Prognosen, Parameteroptimierung, Bedarfszeitreihen, Simulation

Literatur:

[1] Barton, T.; Müller, C.; Seel, C.: Digitalisierung in Unternehmen, Von den theoretischen Ansätzen zur praktischen Umsetzung. Wiesbaden 2018.
[2] Claus, T.; Herrmann, F.; Manitz, M.: Produktionsplanung und -steuerung: Methoden und deren Anwendungen. Berlin Heidelberg 2015.
[3] Bienhaus, F.; Haddud, A.: Procurement 4.0: factors influencing the digitisation of procurement and supply chains, in: Business Process Management Journal (BPMJ) 4 (2018) S. 965-984.
[4] Arnolds, H.; Heege, F.; Röh, C.; Tussing, W.: Materialwirtschaft und Einkauf, Grundlagen - Spezialthemen - Übungen, 13. Auflage. Wiesbaden 2016.
[5] Wischmann, S.; Hartmann, E. A.: Zukunft der Arbeit – Eine praxisnahe Betrachtung. Berlin Heidelberg 2018.
[6] Jacob, M.: Management und Informationstechnik: Eine kompakte Darstellung. Wiesbaden 2013.
[7] Hyndman, R. J.; Athanasopoulos, G.: Forecasting: Principles and Practice: A comprehensive introduction to the latest forecasting methods using R. Learn to improve your forecast accuracy using dozens of real data examples. 3rd ed. Melbourne (Australia) 2021.
[8] Schmid, A.; Kamhuber, F.; Sobottka, T.; Sihn, W.: DISPO 4.0 – Simulationsgestützte Absatzprognoseoptimierung in der Investitionsgüterindustrie, in: Simulation in Produktion und Logistik, Tagungsband 26. ASIM Symposium Simulationstechnik. Wien 2022.
[9] Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft FFG: DISPO4.0: Vorgehensmodell einer digitalisierten, nach Kosten und Absatz optimierten, verbrauchsgesteuerten Materialdisposition. URL: https://projekte.ffg.at/projekt/3270167/pdf, Abrufdatum 14.07.2022.
[10] Schuh, G.; Schmidt, C.: Produktionsmanagement, Handbuch Produktion und Management 5, 2. Auflage. Berlin Heidelberg 2014.
[11] Schönsleben, P.: Integrales Logistikmanagement, Operations und Supply Chain Management innerhalb des Unternehmens und unternehmensübergreifend, 8. Auflage. Berlin Zürich 2020.
[12] Schmid, A.; Kamhuber, F.; Sobottka, T.; Sihn, W.: DISPO 4.0 | Simulation-Based Optimization of Stochastic Demand Calculation in Consumption-Based Material Planning in the Capital Goods Industry. In: Tehnički glasnik 16 (2022) 3, S. 333-340.

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