Pick-by-Vision in der manuellen Kommissionierung - Anforderungen an die betriebliche Nutzung

Ralf Elbert, Anne Friedrich und Eszter Knobloch

Bei Unternehmen stößt die Nutzung von Datenbrillen als innovatives Assistenzsystem im operativen Betrieb zunehmend auf Interesse. Speziell in der manuellen Kommissionierung birgt der Einsatz von Datenbrillen bei der Kommissioniererführung mittels Pick-by-Vision das Potenzial, eine Verbesserung der Effizienz, Qualität und Ergonomie des Kommissionierprozesses zu bewirken. Aktuelle Pilotanwendungen verdeutlichen aber auch Problemfelder bei der Implementierung und Grenzen des Einsatzes. In diesem Beitrag wird auf der Basis einer systematischen Literaturrecherche ein Überblick über Anforderungen an die Nutzung von Pick-by-Vision aus dem Blickwinkel der Logistik gegeben. Hierfür werden die Ergebnisse einer Anforderungsanalyse vorgestellt, bei der neben direkten Benutzer- und Systemanforderungen auch Anforderungen aus der Lagergestaltung und den organisatorischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen diskutiert werden.

Kostendruck, eine hohe Marktdynamik sowie veränderte Kundenerwartungen hin zu einem höheren Servicegrad und kürzeren Produktlebenszyklen führen vielfach zu einem Anpassen bestehender Strukturen und Abläufe bei produzierenden Unternehmen [1]. So ist ein Trend zu einer abnehmenden Fertigungstiefe und einer höheren Variantenvielfalt erkennbar. Bei gleichzeitigen Flächenbegrenzungen ist eine Bereitstellung in produzierenden Unternehmen zunehmend nur durch kleine Losgrößen und mit Beschaffungsstrategien wie „Just in Time“ und „Just in Sequence“ realisierbar. Gleichzeitig reagieren Unternehmen der Konsumgüterindustrie auf die aktuellen Kundenanforderungen mit einer Ausweitung ihres Sortiments, einem vergrößerten Online-Angebot und Möglichkeiten wie „Same Day Deliveries“.

Die manuelle Kommissionierung als Stellhebel

Die Dynamik und Komplexität der Rahmenbedingungen erfordert reaktionsschnelle, flexible und effiziente Logistikprozesse [2]. Einen Stellhebel bildet hierfür insbesondere die Kommissionierung. Dies ist hauptsächlich auf zwei Ursachen zurückzuführen: Erstens wird ein Großteil der Kommissioniersysteme manuell nach dem „Mann-zur-Ware“-Prinzip betrieben, da Automatisierungen die Flexibilität zur Bewerkstelligung heterogener Arbeitsinhalte tendenziell einschränken und hohe Investitionen bei der Anschaffung und dem Betrieb verursachen [3]. Dies macht die Kommissionierung zu einem zeit- und personalintensiven und daher auch kostenintensiven Prozess, der unmittelbar die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen beeinflusst [4]. Zweitens führt die zentrale Stellung des Menschen beim Kommissionierprozess zu einer erhöhten Prozessunsicherheit, insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Komplexität und Vielfalt der Produkte und Arbeitsabläufe. Daher hat die Kommissionierung neben der Wettbewerbsfähigkeit auch unmittelbar Auswirkungen auf die Qualität des Lieferservices der Unternehmen und somit letztlich auf die Kundenzufriedenheit [5].
 


Bild 1: Kategorisierung von Anforderungen für den Einsatz von Pick-by-Vision.

Pick-by-Vision als Effizienz- und Qualitätstreiber?

In Anbetracht der Schlüsselrolle der manuellen Kommissionierung bei der Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen suchen Unternehmen vermehrt nach Möglichkeiten zur Prozessverbesserung. Angestrebt wird eine Erhöhung der Pickgeschwindigkeit bei gleichzeitiger Minimierung der Fehlerrate des Kommissionierers [6]. Zur Realisierung dieser Effizienz- und Qualitätssteigerung gewinnen vor dem Hintergrund von Megatrends, wie der Digitalisierung, Datenbrillen zunehmend die Aufmerksamkeit von Unternehmen. Datenbrillen, wie beispielsweise die Modelle Google Glass und Vuzix Smart Glasses M300, kommen bei Pick-by-Vision, einer neuartigen, informationstechnischen Art der Kommissioniererführung, zum Einsatz. Dabei erhält der Kommissionierer bedarfsgerecht Informationen mittels Augmented Reality, also als Erweiterung seiner Realitätswahrnehmung, durch die von ihm getragene Datenbrille eingeblendet. Neben statischen können auch dynamische, im Raum positionierte Daten visualisiert werden, zum Beispiel zur Navigation oder Unterstützung am Entnahme- oder Ablageort durch die Hervorhebung räumlicher Objekte [7]. Vorteilig ist, dass dem Kommissionierer durch die rein visuelle Unterstützung beide Hände beim Kommissionierprozess zur Verfügung stehen [8]. Die bedarfsgerechte Informationsbereitstellung birgt außerdem Potenziale zur Verringerung der Kommissionierzeit, hauptsächlich durch eine Reduzierung der sogenannten Totzeit, die ohne physische Bewegungen für Tätigkeiten, wie das Erkennen, Verstehen, Suchen, Zählen, Quittieren oder Eingeben, aufgebracht wird [9]. Darüber hinaus kann sich eine intuitive und personalisierte Darstellung der Informationen positiv auf die kognitive Beanspruchung auswirken und zu einer Verringerung von Kommissionierfehlern führen [8].
Trotz dieser Potenziale kommen Datenbrillen bisher vorwiegend nur in Pilotanwendungen zum Einsatz. Die industrielle Nutzung wird getestet, bisher existiert jedoch noch kein Massenmarkt für den Einsatz. In solchen Testphasen zeichnen sich Probleme bei den Hardwarelösungen ab. Insbesondere die stabile WLAN-Anbindung an das bestehende Warehouse Management System und die Stromversorgung der Datenbrillen über die Dauer einer Schicht erweisen sich als kritische Faktoren [10]. Neben der Begrenzung durch die aktuellen Hardwarelösungen gilt auch die Akzeptanz der Mitarbeiter als Schlüsselfaktor für die Verbreitung von Datenbrillen in der manuellen Kommissionierung [11]. Diese sich abzeichnenden Diskrepanzen zwischen den prinzipiellen Einsatzmöglichkeiten und der aktuellen betrieblichen Nutzung werfen die Frage auf, welche Anforderungen Pick-by-Vision als Assistenzsystem aus dem Blickwinkel des Benutzers für den Einsatz in der manuellen Kommissionierung erfüllen muss. Außerdem ist zu hinterfragen, welche technischen Systemanforderungen an die Soft- und Hardware, also an die Robustheit der Technologie, gestellt werden.
 


Bild 2: Benutzer- und Systemanforderungen.

Systematisierung der Anforderungslandschaft

Beim Einsatz von Pick-by-Vision entsteht eine neuartige Mensch-Maschine-Interaktion zwischen dem Lagermitarbeiter und dem Warehouse Management System mit der Datenbrille als Interaktionsgerät. Um die wechselseitigen Anforderungen von Seiten des Benutzers und aus systemtechnischer Perspektive zu identifi zieren, wurde eine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Hierfür wurde der Suchalgorithmus „(Datenbrille OR Augmented Reality OR Pick-by-Vision) AND (Logistik OR Kommissionierung)“ sowie dessen englischsprachige Übersetzung gebildet und zur Recherche in den Datenbanken Ebsco Host, Science Direct, Scopus und WISO verwendet. Es wurden 436 Literaturquellen identifi ziert, die durch die Filterung nach Duplikaten sowie eine Titel-, Abstract- und Volltextsichtung schrittweise auf 108 Quellen reduziert wurden.
Bei der anschließenden Durchführung der Anforderungsanalyse wurde eine üblicherweise im Kontext der Konstruktion und Softwareentwicklung angewandte Vorgehensweise genutzt [12]: Merkmale von Pick-by-Vision und wirkende Einfl ussfaktoren auf die Mensch-Maschine- Interaktion wurden literaturbasiert ermittelt und in sechs Anforderungskategorien mit jeweils zwei Unterkategorien systematisiert. Hierbei wurde deutlich, dass neben den direkten Benutzer- und Systemanforderungen aus der Wirkung von Kontextfaktoren innerhalb des Unternehmens und von Anspruchsgruppen außerhalb des Unternehmens weitere Anforderungen resultieren. Wie in Bild 1 dargestellt, wurden Kategorien im Bereich der Lagergestaltung sowie der organisatorischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gebildet, welche den Einsatz von Pick-by-Vision zusätzlich bedingen.
Für die Merkmale bzw. Einflussfaktoren wurde in Form einer tabellarischen Anforderungsliste jeweils die Soll-Ausprägung ermittelt, die für einen effizienten, fehlerfreien und ergonomischen Pickprozess mit dem Einsatz von Pick-by-Vision erforderlich ist. Die Methodik der Anforderungsanalyse wurde bereits im Jahr 2009 auf ein anfängliches Pick-by-Vision System, bei dem das Tragen eines Laptops sowie das Montieren von Trackingkugeln erforderlich war, genutzt [6]. Die rasante Entwicklung der Datenbrillen in den letzten Jahren zeigt, dass eine Neubewertung der Anforderungen erforderlich ist.

Eine Anforderungsliste für Pick-by-Vision

Direkte Anforderungen an die informationstechnische Kommissioniererführung mittels Pick-by-Vision gehen vom Benutzer und den Systemkomponenten der Datenbrille aus (Bild 2). Zu beachten ist, dass diese nicht nur das Tragen der Datenbrille selbst, sondern auch die Bedienung von Zusatzkomponenten, wie von Interaktionsgeräten in Form von Touch-Bedienfeldern an der Brille oder von Kameras als Trackingsysteme, betreffen.
Im Bereich der Benutzeranforderungen ist es zur Sicherstellung des physischen Wohlbefindens des Lagermitarbeiters erforderlich, dass bei der Datenbrille und allen weiteren Komponenten eine hohe Ergonomie und Gebrauchstauglichkeit im Sinne eines hohen Tragekomforts vorliegen. Beispielsweise sollte kein Verrutschen und Behindern der Bewegungsfreiheit durch die Verkabelung der Brille auftreten. Außerdem konnte als zentrale Anforderung eine Individualisierbarkeit der Brille, unter anderem durch das Bereitstellen von Brillengläsern mit Sehstärke und die Anpassung an Arbeitskleidung, identifiziert werden. Erforderlich ist darüber hinaus, dass die Brille keinerlei physische Schmerzen, wie Augen- oder Kopfschmerzen, und weitere Beschwerden, wie Orientierungsprobleme, Gleichgewichtsstörungen, Fokussierungsprobleme oder Wahrnehmungsprobleme, verursacht sowie das Sichtfeld nicht einschränkt. Damit der Benutzer neben dem physischen auch ein psychisches Wohlbefinden verspürt, soll weder eine Überforderung bzw. ein zu hohes Stresslevel noch eine Unterforderung bzw. Langweile und Demotivation hervorgerufen werden. Hierfür sollten Möglichkeiten zur Anpassung an die individuelle Arbeitsgestaltung bestehen und die Akzeptanz durch eine intuitive Bedienbarkeit und verständliche Informationsdarstellung gefördert werden.


Bild 3: Anforderungen an die Lagergestaltung sowie die organisatorischen, wirtschaftlichen und
rechtlichen Rahmenbedingungen.

Anforderungen von Seiten des Systems sollten zu einer Umsetzung der Benutzeranforderungen beitragen. So sollten im Hinblick auf die Hardware Vorgaben für eine Mindestlaufzeit von acht Stunden bei den Akkus ohne Hitzeentwicklung, ein geringes Gewicht und wenig Verkabelung sowie wenig Körpereinsatz zur Bedienung der Interaktions- und Trackinggeräte realisiert werden. Zudem ist ein WLAN-Modul in der Brille für einen schnellen Datenaustausch erforderlich. Insgesamt ist die Hardware möglichst robust gegenüber Verschmutzungen und Stürzen zu gestalten. Softwareseitig ist vor allem die Gewährleistung einer hohen Qualität der Informationsbereitstellung, beispielsweise durch die Reihenfolge, Lesbarkeit und Verständlichkeit, relevant. Für die operative Nutzung sollten auch softwaretechnisch eine intuitive Benutzerführung, zum Beispiel bei der An- und Abmeldung, und ein direktes Aufzeigen von Kommissionierfehlern inklusive Korrekturanweisungen realisiert sein. Unabdingbar ist zudem eine hohe Kompatibilität der Komponenten mit der bestehenden Softwarearchitektur.
Indirekte Anforderungen, die von innerhalb oder außerhalb des Unternehmens zusätzlich die Gestaltung der Interaktion zwischen dem Benutzer und der Datenbrille beeinflussen, sind in Bild 3 dargestellt.
Ersichtlich wird aus Bild 3, dass in Bezug auf die Lagergestaltung die Anforderung gestellt wird, dass es sich um ein manuell betriebenes Lager handelt. Geeignet zur visuellen Hervorhebung von Objekten am Entnahme- oder Ablageort sind insbesondere Fachboden- oder Durchlaufregale. Hinsichtlich der Umgebungsbedingungen zeichnen sich eine Beschränkung der Helligkeit und der Schattenbildung als primäre Anforderungen ab. Als organisatorische Anforderungen erweisen sich darüber hinaus Bestandteile der Arbeitsorganisation, wie Möglichkeiten zum Wechseln bzw. Erweitern von Arbeitsumfängen, beispielsweise durch den zusätzlichen Einsatz von Pick-by-Vision bei Verpackungs- und Transportaufgaben. Wirtschaftliche Anforderungen entstehen neben der Realisierung einer Leistungs- und Qualitätssteigerung beim Pickprozess vor allem aus dem Investitionsaufwand bei der Anschaffung und der Einbindung in bestehende Informationssysteme.
Ergänzt werden die beschriebenen unternehmensspezifischen Anforderungen durch externe, rechtliche Anforderungen. Diese dienen zum einen der Erhöhung der Sicherheit zur Prävention von Arbeitsunfällen. Zum anderen betreffen die Anforderungen im Bereich des Datenschutzes den sensiblen Umgang mit den durch die Pick-by-Vision-Unterstützung erhobenen Daten.

Fazit und Ausblick

Die Analyse verdeutlicht, dass an die Nutzung der mittels Pick-by-Vision geführten Kommissionierung vielfältige Anforderungen direkt von Seiten des Nutzers und der Systemtechnik, aber auch im erweiterten Kontext des Unternehmens und des Unternehmensumfelds, gestellt werden. So ist es in der Praxis häufig erforderlich, dass Unternehmen neben der Anschaffung der Hard- und Software weiterführende Anpassungen, beispielsweise bei Arbeitsabläufen und Lagerbedingungen sowie der Gestaltung von Schnittstellen und Überwindung von Kompatibilitätsproblemen mit dem Warehouse Management System, vornehmen müssen.
Zur Bewerkstelligung von Herausforderungen der Implementierung kann die Entwicklung eines Leitfadens Unternehmen bei der Abschätzung des Aufwands unterstützen. Als nächster Schritt soll hierfür zunächst die Wirkung der literaturbasiert ermittelten Anforderungen in der Praxis evaluiert und um bisher nicht berücksichtigte Aspekte ergänzt werden. Bei ersten Interviews mit Praxisvertretern kristallisierte sich bereits heraus, dass es für einen Leitfaden zweckmäßig ist, die Anforderungen weiterführend durch eine Einteilung in zwingend erforderliche bzw. harte und weiche Anforderungen zu priorisieren. Diese Einteilung kann als Grundlage zur Entwicklung von Maßnahmen zur Bewältigung der Anforderungen dienen.

Schlüsselwörter:

Pick-by-Vision, manuelle Kommissionierung, Anforderungsanalyse

Literatur:

[1] Arnold, D. (Hrsg): Intralogistik. Potentiale, Perspektiven, Prognosen. Berlin Heidelberg 2006.
[2] Weidt, S.: Intraorganisationales Kompetenzmanagement für die Logistikplanung. Dissertation, Universität Dortmund 2003.
[3] Arnold, D.; Furmans, K.: Materialfluss in Logistiksystemen. Heidelberg u. a. 2005.
[4] de Koster, R.; Le-Duc, T.; Roodbergen, K. J.: Design and control of warehouse order picking. A literature review. In: European Journal of Operational Research 182 (2007), S. 481-501.
[5] ten Hompel, M.; Sadowsky, V.; Beck, M.: Kommissionierung. Materialflusssysteme 2 – Planung und Berechnung der Kommissionierung in der Logistik. Berlin Heidelberg 2011.
[6] Reif, R.: Entwicklung und Evaluierung eines Augmented Reality unterstützten Kommissioniersystems. Dissertation, TU München 2009.
[7] Günthner, W. A.; Rammelmeier, T.: Forschungsbericht. Vermeidung von Kommissionierfehlern mit Pick-By-Vision. München 2012.
[8] Kirks, T.; Jost, J.; Mättig, B.: Optimierung manueller Arbeitsprozesse in der Intralogistik durch Unterstützung des Menschen mit Augmented Reality. Datenbrillen zur Prozessunterstützung in der Verpackung. In: Glock, C.; Grosse, E. (Hrsg): Warehousing 4.0. Lauda-Königshofen 2017, S. 207-221.
[9] Schwerdtfeger, B.; Reif, R.; Günthner, W. A.; Klinker, G.: Pick-by-vision: There is something to pick at the end of the augmented tunnel. In: Virtual Reality 15 (2011) 2-3, S. 213- 223.
[10] Günthner, W. A.; Blomeyer, N.; Reif, R.; Schedlbauer, M.: Pickby- Vision. Augmented Reality unterstützte Kommissionierung. München 2009.
[11] Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg): Head-Mounted Displays. Arbeitshilfen der Zukunft. Bönen 2016.
[12] Conrad, K.-J.: Grundlagen der Konstruktionslehre. Methoden und Beispiele für den Maschinenbau, 6., aktualisierte und erweiterte Auflage. München 2013.